Sie war das Gedächtnis unserer Stadt

Vera Gärtner

Zum Tod von Vera Gärtner

Wenn man etwas über die Ortsgeschichte von Ludwigsfelde erfahren wollte, konnte man sie immer anrufen. Wenn man sie auf der Straße, oder bei einer Veranstaltung traf, war sie immer gerade mit einer Idee unterwegs. Ihre Liebe galt den Menschen ihrer Heimatstadt, ganz besonders den Jüngsten, denn schließlich war sie Lehrerin gewesen – ihr Traumberuf. Ihre Berufung, zu den historischen Wurzeln ihrer/unserer Heimatstadt vorzudringen und das Wissen darüber allen zugänglich zu machen – das war ihr stetiger Antrieb, bis ins hohe Alter. Dafür las sie, telefonierte, sprach mit Zeitzeugen, reiste, forschte und gab ihre eigenen Erlebnisse gern weiter.

Vera Gärtner, 1935 geboren und mit vier Jahren nach Ludwigsfelde gekommen, berichtete oft darüber, wie sie als kleines Mädchen voller Angst die Tage im Luftschutzbunker erlebte.  „Im Jahr 1941 wurden wir in die heutige Zwiebelschule in Ludwigsfelde eingeschult. Da war Krieg. Heute ist das für unsere Schüler unvorstellbar. Kein Fliegeralarm, kein Hunger, wie in der Nachkriegszeit, kein schreiben auf alten Zeitungsrändern, weil Hefte fehlten.Zum Glück!“ Sie hielt viele Jahrzehnte lang Kontakt zu den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen aus dem Ludwigsfelder Barackenlager.  Als im Jahr 2015 in Ludwigsfelde 70 Jahre Frieden feierlich begangen wurden, erinnerte sie sich: „Ich war zehn Jahre alt und habe am 22. April 1945 miterlebt, wie die Russen durch die Straße gefahren sind… Ich saß in einem großen Sessel am Fenster und hatte von den Soldaten eine dicke Butterstulle geschenkt bekommen. Ich war und bin sehr dankbar, dass es uns gut ging.“

 „Was können wir gegen das Vergessen in der heutigen Zeit unternehmen?“ – dieses Thema beschäftigte Vera Gärtner ihr Leben lang. Dafür engagierte sie sich voller Elan, gründete am 22. Januar 1992 den „Ludwigsfelder Geschichtsverein“ mit und übernahm ab 2002 seinen Vorsitz. Ihr Ziel war es, „Kenntnisse unserer Heimatgeschichte ohne politische Eingrenzung zu erweitern, zu vertiefen und lieben zu lernen“. Dafür stand sie in ständigem Austausch mit Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung – besonders mit der ehemaligen Museumsleiterin Ines Krause. Dafür fotografierte sie, solange die Kraft reichte, die baulichen Veränderungen in der Stadt, schrieb unermüdlich Zahlen, Fakten und Erinnerungen nieder, gab, gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern vom Geschichtsverein, zahlreiche Broschüren und Bücher heraus. Seit 2017 ist das gesammelte Wissen, einschließlich einer Stadtchronik, auch im Internet zu finden(https://www.ludwigsfelder-geschichtsverein.de/geschichte)

Für die städtische und regionale Presse war sie eine geschätzte Partnerin. Besonders am Herzen lagen ihr die Stadtspaziergänge mit historischem Hintergrund, die sie von 1997 bis 2007 leitete. Jung und Alt durchwanderten mit ihr in diesen Jahren Ludwigsfelde – mal nach Struveshof, dann durch die kleine Werksiedlung, zum Friedhof, ins Dichterviertel, rund ums Rathaus oder durch die ehemalige Barackenstadt im Wohngebiet West. Eine besondere Idee wurde 2008 geboren – das Glockenfest. Immer am 3. Oktober am „Alten Krug“, dem ältesten Gebäude der Stadt, feierten die Ludwigsfelder ausgelassen. Hier, wo die Vereinsmitglieder 1992 eine Linde gepflanzt hatten, fanden sich bis 2018 hunderte Ludwigsfelder Bürger zusammen um sich nicht nur mit kulinarischen und kulturellen Genüssen verwöhnen zu lassen, sondern auch, um Interessantes und oft auch Bewegendes aus der Geschichte ihrer Heimatstadt zu erfahren. Immer war Wissenswertes zu einem speziellen Thema zu erfahren – z.B. Vieles aus der umfangreichen Stadtgeschichte, besondere Jubiläen oder Geburtstage bekannter Persönlichkeiten (u.a. Königin Luise, Heinrich von Kleist, Theodor Fontane) wurden gefeiert. Historische Kostüme und Gäste (bis hin zum „Alten Fritz“) machten diese Feste zu einem Highlight im Veranstaltungskalender der Stadt. Anlässlich des ersten Festes wurde sogar extra eine Glocke eingeweiht. Sie erinnert noch heute am Ortseingang unserer Stadt an den ehemaligen Dorfteich, auf dem Vera Gärtner, so berichtete sie damals, als Kind noch Schlittschuh gelaufen ist. Leider ist er schon lange ausgetrocknet, aber die Glockensage (niedergeschrieben von einer Schülerin aus Löwenbruch) die sie damals zur Einweihung zitierte (zu finden in der Broschüre „Sagenhaftes“, Band 1, des Ludwigsfelder Geschichtsvereins) wird den Gästen sicher im Gedächtnis geblieben sein:

„Vor vielen Jahren ist in Ludwigsfelde eine Kirche versunken.  An der Stelle, wo sie untergegangen ist, liegt jetzt der Dorfpfuhl. Wer ein Sonntagskind ist und in der Geisterstunde dort vorübergeht, hört heute noch die Glocken läuten. Andere sagen auch, dass man die Kirchturmspitze sehen könnte, wenn der Pfuhl ausgetrocknet wäre.“ Nicht nur dieanwesenden Kinder machten damals große Augen. 

In Kontakt mit den Bewohnern ihrer Heimatstadt zu kommen, war Vera Gärtner besonders wichtig – sie war immer neugierig auf Menschen.  Dafür ging sie mit dem Geschichtsverein auf die Sommerfeste, Lu-Feste und Weihnachtsmärkte von Ludwigsfelde – und in den umliegenden Ortsteilen auf ungezählte Dorffeste. Aus einer Frage wurde oft ein Gespräch, aus Gesprächen wurden Diskussionen und daraus wuchsen meist schon die nächsten Ideen – und aus Gesprächspartnern wurden Mitstreiter. Für neue Projekte des Vereins warb Vera bei Firmen, Gewerbetreibenden und den Vätern und Müttern der Stadt auch oft erfolgreich um Finanzmittel. Ihr unerschöpflicher Wissendrang ließ sie zur unerschöpflichen Quelle des Wissens über die Geschichte von Ludwigsfelde und der Region um die Stadt werden – sie wurde zum Gedächtnis ihrer Stadt.

 „Meine Stadt, die mag ich sehr…, es sind die Menschen. Wenn ich ihnen begegne, liebe ich meine Stadt“, zitierte Vera oft aus einem Gedicht, das sie 1992, im Gründungsjahr des „Ludwigsfelder Geschichtsvereins“ geschrieben hatte. 

Unermüdlich war sie, wenn es galt, etwas dafür zu tun, dass die Geschichte unserer – ihrer –  Heimatstadt lebendig bleibt. Immer war ihr wichtig, zu wissen, wie sich junge Leute in Ludwigsfelde fühlen, was ihnen gefällt, was sie ändern würden – und dass sie lernen: „Geschichte ist nicht ein abstraktes Geschehen irgendwo da draußen, sondern gehört zu meiner eigenen Vergangenheit“ – auch dafür erhielt sie am 30. Januar 2009 als eine der ersten den „Bürgerpreis der Stadt Ludwigsfelde“. Sie betonte damals in ihren Dankesworten sehr ergriffen, dass ihr sowohl die Jugend als auch die ältere Generation am Herzen lägen und dass viele Ehrenamtliche solch eine Auszeichnung verdient hätten.  

Wann immer sich die Möglichkeit bot, teilte Vera Gärtner den Menschen mit denen sie zu tun hatte mit, was sie am meisten bewegte – dass das Interesse an der Vergangenheit, an den Wurzeln der Stadtgeschichte, nicht erlischt und dass auch die nachfolgenden Generationen in Frieden leben können. „Fragt die Zeitzeugen, vergesst uns nicht“,erinnerte sie immer wieder daran, dass persönliche Gespräche vielleicht eher den Zugang zu den Geschehnissen der damaligen Zeit verschaffen, als Fakten in einem Geschichtsbuch. 

Mal war es eine Kanonenkugel, die sie zum Glockenfest 2013 mitbrachte, um an die Toten des Gefechtes an der Wietstocker Schanze zu erinnern, mal eine Baumscheibe, deren Jahresringe auf ein wechselvolles Leben des Baumes schließen lassen – so machte sie Geschichte begreifbar. 

Vera Gärtner hat einmal gesagt: „Ich könnte gar nicht hier weggehen, hier kenne ich mich aus, hier leben meine Erinnerungen. Durch den Ort gehen, grüßen und gegrüßt werden – das ist für mich Heimat.“    

Liebe Vera – auch wenn du nun nicht mehr durch die Straßen von Ludwigsfelde gehstdeine Heimatstadt wird – wir werden –  dich nicht vergessen. 

M.R.

Kommentare sind geschlossen.