Die erste Kindertagesstätte nach dem Krieg und die tägliche Sorge um die Kleinsten

Durch die Ansiedlung des Flugmotorenwerkes in Ludwigsfelde im Jahre 1936 stieg die Einwohnerzahl der Gemeinde stetig und in hohem Tempo an. Die Zugezogenen kamen meist wegen der Arbeit im Werk, oftmals auch als Familie mit Kindern. So war man gezwungen, sich alsbald Gedanken um die Betreuung der Kinder zu machen. Im September 1939 wurde daher ein Werkskindergarten  eingerichtet. Es handelte sich damals um den größten im Kreis Teltow. Zunächst waren 80 Kinder zu betreuen, bis Kriegsende erhöhte sich die Zahl auf 120. Untergebracht war der Kindergarten in der Turnhalle der  Hermann-Löns-Schule (heute Gebrüder-Grimm-Schule).

Eingang zur Kindertagesstätte
Der Eingang zur neugegründeten Kindertagesstätte in der Taubenstraße. 2. v.r. die Leiterin, Frau Kornmüller

Direkt nach Ende des Krieges war die Situation – vor allem die der Kinder – eine dramatische. Viele Väter sind im Krieg geblieben oder in Gefangenschaft geraten, die Mütter mussten irgendwie versuchen, durch Trümmerbeseitigung oder andere Arbeiten an Lebensmittelkarten zu kommen, um sich und ihre Kleinen durchzubringen, denn es herrschte Hunger, Not und Elend in diesen  Tagen. Um wenigstens die Kinder besser zu versorgen, wurde im Juli 1945 Frau Magdalena Kornmüller von der Ortsgruppe der KPD beauftragt, eine Kindertagesstätte zu eröffnen. Eine dunkle Baracke am Ende der Taubenstraße wurde das erste Domizil für die vorerst kleine Schar zu betreuender Kinder. Innen ein langer Flur und mehrere mit Namen benannte Zimmer (Sandkasten=Spielzimmer, Starennest…), von denen jedoch nur eines – das Zwergenzimmer – beheizbar war. Es gab Zwerge (die Kleinen) und Stare (die Großen). Von Montag bis Samstag wurden Kinder von 3 bis 12 Jahren, nach Beginn der Schule am 21.8. auch Hortkinder, tagsüber betreut.

Kindergruppe
Die ersten Bewohner der Kindertagesstätte

Dank dem Umstand, dass Frau Glock, eine der vier Betreuerinnen, für die Zeit vom 23. Juli bis 21. November 1945 ein Tagebuch über den Alltag in dieser ersten Ludwigsfelder Kindertagesstätte nach dem Krieg  führte, sind wir heute in der Lage, uns ein Bild über die Verhältnisse jener Tage zu machen. Nachfolgend einige Auszüge aus den täglichen Berichten:

23.07.1945: Am 23.7.45 wurde unser Kindergarten eröffnet. Mit einer kleinen Feier begannen wir den Tag. Der Kapellmeister Werner und eine Musikerin seines Orchesters sorgten für die nötige Festtagsstimmung und die Kinder sangen mit Begeisterung alle die Kinderliedchen mit. Freudig begrüßt wurde die Kaffeetafel, die im Zwergenzimmer auf die kleinen Gäste wartete und die Zeit bis zum Mittag verging so schnell im fröhlichen Spiel. Das Mittagessen selbst war für unsere Kleinen eine nette Überraschung – denn es gab Obstsuppe. Nach dem Essen war alles zufrieden, ein Mittagsschläfchen zu halten. Der Nachmittag stand auch noch im Zeichen unserer Eröffnungsfeier und wir konnten den Kindern, dank einer Spende, nocheinmal eine Kaffeetafel bieten. Um 5 Uhr nachmittags gingen wir mit Bedauern nach Hause. Betreut wurden an diesem Tag 15 Kinder.
26.07.1945: Zur Betreuung hatten wir 20 Kinder, 4 davon waren durchfallkrank und mußten Medizin bekommen. Der übrige Teil der Kinder ist gesundheitlich gut imstande. Unser Küchenzettel ist heute – Graupensuppe und Kartoffeln -. Die Kinder essen sich gut satt und schlafen anschließend täglich 2 Stunden. Unseren Waldspaziergang benutzten wir heute zum Holzsammeln für unsere Küche. Die Kinder sind freudig dabei, auch etwas beitragen zu dürfen zum allgemeinen Aufbau. Nachmittags erklärte sich Dr. Leo bereit all unsere Kinder zu untersuchen. Das Ergebnis war an und für sich befriedigend.
28.07.1945: Dieser Tag stand im Zeichen einer Geburtstagsfeier für 2 unserer Kinder. 18 Kinder waren anwesend. Wir hatten das Glück, bei der Fleischverteilung berücksichtigt zu werden und konnten so – Geburtstagsbraten zu Mittag reichen. …

Das nächste Fleisch bekamen die Kinder übrigens erst mehr als einen Monat später zu Gesicht – als Suppeneinlage.

Spaziergang im Wald
Die ersten Bewohner der Kindertagesstätte beim Spaziergang im Wald

03.08.1945: 23 Kinder von den gemeldeten 28 waren heute bei uns. Erfreulicherweise waren auch heute alle gesund und munter. Ein lustiges Wettemalen am Morgen brachte dem schönsten Bild einen Preis – Ein Stückchen Zucker konnte der glückliche Gewinner einstecken. Für die heutige Zeit eine kostbare Sache und zum Schluß waren nur glänzende Augen und kauende Mündchen um uns – also hatten alle den Preis erhalten. Die nächsten 5 Kinder wurden heute gewogen – sie haben zum großen Teil Untergewicht. Auf unseren Mittagstisch brachten wir heute einen süßen Brei und Kartoffeln dazu. Nachmittags Kaffee. Sonst fiel nichts Besonderes vor.
13.08.1945: …Am Vormittag wurden uns Luftschutzbetten gebracht, die wir sehr gut für unsere größeren Kinder zum Mittagsschlaf gebrauchen können. Und so waren alle fleißig beim Zusammenbauen beschäftigt. …

Die Ausrüstung des Kindergartens war von Anfang an miserabel, was jedoch für diese Zeit nachvollziehbar ist. Vieles, wie diese Betten, wurde erst nach und nach organisiert, das Spielzeug zum großen Teil selbst gebastelt.

Spielzimmer
Das Spielzimmer in der Kindertagesstätte im Jahre 1947

18.08.1945: Heute war wieder ein fröhlicher Tag für unsere Kinder, denn 3 von ihnen hatten Geburtstag. Zwar nicht am gleichen Tag, aber doch innerhalb von ein paar Tagen und es ist lustiger, wenn mehrere Geburtstagskinder beisammen sind. 27 Kinder waren also versammelt, alle gesund und munter. Der Tag brachte viele Überraschungen und Freude für unsere Kleinen, sodaß die Kleinsten zu Hause erzählen – „wir haben heute alle Geburtstag gehabt“ – Unser Festessen bestand aus – dicker Fruchtsuppe mit Brotscheiben – Daß unter jedem Brot ein Stück Schokolade zum Vorschein kam löste besonders Jubel aus. Ein kleines Spielzeug, ein paar Bonbon und ein Stck Schokolade lag auf dem blumengeschmückten Geburtstagstisch der Geburtstagskinder. Am Schluß wollte keines der Kinder heimgehen.

Der Jubel lässt vermuten, dass viele der Kinder schon seit Monaten keine Schokolade mehr gesehen  hatten.

24.08.1945: …Allen Kindern – mit einer Ausnahme, schmeckte unsere – Erbssuppe – ausgezeichnet. Diesem Einen seine ungezogenen Essensgewohnheiten abzugewöhnen wird jetzt unser Erstes sein. Es ist erstaunlich daß in dieser Zeit ein Kind noch so verwöhnt sein kann. …
29.08.1945: …Auf unseren Spaziergang im Wald entdeckten wir einen herrlichen Platz, auf dem man große Berge und Höhlen bauen kann – aus ganz weißem Sand! Es handelt sich um eine alte Ausschachtung und hat unsere Kinder restlos begeistert. Das Mittagessen bestand aus – Kartoffelsalat – und mit Freuden wurde es eingenommen. …
20.09.1945: …Am Nachmittag gingen wir geschlossen zum Wiegen der Kinder. Bei den Kindern, die schon einmal gewogen wurden konnten wir eine Gewichtszunahme von durchschnittlich ½ Pf. feststellen (innerhalb eines Monats).

Das zeigt, dass das zur Verfügung stehende Essen zwar gut genug war, um nicht zu verhungern, aber noch lange nicht als altersgerechte Ernährung angesehen werden konnte.

08.11.1945: …Die Mittagsruhe muß jetzt für die Großen – von 6-12 Jahren fortfallen, weil es zu kalt ist. Nur den Schlafraum der Kleinsten können wir heizen. …
16.11.1945: …Von heute ab bekommen wir unser Essen aus der Flüchtlingsküche und wir können uns mehr der Erziehung unserer Kinder widmen. Es gab – Kohlrabisuppe – zu Mittag. …

Die vier jungen Frauen, die sich um die Kinder kümmerten, mussten  bis dahin auch noch das Essen selbst kochen. Jetzt wurden die Kinder von der Flüchtlingsküche versorgt, einer Baracke mit Kochstellen, ganz in der Nähe der Gaststätte „Sanssouci“.

19.11.1945: Auch heute hatten wir 51 Kinder zu versorgen. Schon die ersten Vormittagsstunden werden für die Weihnachtsvorbereitungen benutzt und alle Kinder beteiligen sich mit fröhlichem Eifer daran. Es gibt aber auch für allerkleinste Hände Arbeit dabei. Heute hat die Schulspeisung begonnen und unsere Kinder werden zum Teil auch damit erfaßt. Nach Beendigung der Schularbeiten wurden heute Gesellschaftsspiele verschiedenster Art gespielt und auch heute gingen unsere Großen in die Nähstube, um sich beim Trennen nützlich zu machen. Die Kleinen schlafen und dann geht’s ans „Frühstück“ wie sie das Vesperbrot nennen. Etliche kleine Lieder werden noch gesungen, dabei gespielt und dann geht’s heim.

Osterumzug
Osterumzug in der Holzhaussiedlung im Jahre 1947

Es fehlte damals an Allem, auch an Stoffen und Kleidung und so wurden notgedrungen auch mal größere Kinder zum Auftrennen der Nähte von alten Sachen abgestellt, damit daraus wieder neue Kleidung für die Bevölkerung genäht werden konnte.

1948 wurden die Kinder zwischen 3 und 14 Jahren – die sogenannte Ernährungsgruppe III – von der Gaststätte „Sanssouci“ versorgt. Auf einem Foto von damals ist erkennbar, was den Kindern zu diesem Zeitpunkt zustand: ½ Liter Milch, 35 g Haferflocken, 25 g Trockenmilch und 10 g Zucker. Die Essensausgabe fand von 13 – 16 Uhr statt, Teller oder Töpfe sowie ein Löffel waren mitzubringen.

Im Jahre 1949 wurden im Kindergarten in der Taubenstraße 40 Kinder betreut. Es gab eine Vorschulgruppe, in der Kinder auf die Schule vorbereitet wurden und eine jüngere gemischte Gruppe, in der Kinder ab 2 ½ Jahren untergebracht waren, da es noch keine Krippe gab. Weitere 40 Hortkinder wurden ebenfalls in dieser Einrichtung betreut. 1950 zogen dann die Kindertagesstätte und der Hort in ein Gebäude in der Ringstraße um. Es handelte sich um das ehemalige Gasthaus „Ludwigsfelder Hof“.

Kindertag 1952
Am Kindertag 1952 in der Einrichtung in der Ringstraße

1952 wurde die Kapazität dieses Gebäudes auf 72 erhöht und der Hort zog aus. Am Kindertag 1952 waren dann alle Vorschulkinder aus Ludwigsfelde in der Ringstraße zu Besuch. Der Kindergarten blieb noch weitere 20 Jahre dort und wurde dann 1972, als das Gebäude den baulichen und sanitären Anforderungen nicht mehr genügte, in die neue Kinderkombination in der Friedrich-Engels-Straße eingegliedert.

Sandkasten in der Ringstraße
Betreuung der Kinder in der Einrichtung in der Ringstraße im Jahre 1953

Ab 1954 wurden mit der Eröffnung des Werkskindergartens nach und nach weitere Einrichtungen für die Kinder geschaffen, um dem wachsenden Bedarf gerecht zu werden. 1988 gab es in Ludwigsfelde 7 Kindergärten und 3 Kinderkombinationen mit insgesamt 1.257 Plätzen.  Heute, mehr als 30 Jahre später, zählt man (ohne Horte und Tagespflegestellen) 5 KiTa’s mit insgesamt 799 Plätzen in der Kernstadt. Es wird wieder Zeit, an die Kinder zu denken.

Quellen:


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